Die Gebilde scheinen zunächst wie von einer Embryonalhülle (Wohlfahrt) umschlossen, hinter der ein flackerndes Leben zuckt und stößt. Die Durchformung dieses ungegliedert und diffus abgehobenen Ganzen beginnt meist mit einer kreisförmigen Konturierung dieses Etwas, einem kreisförmigen Kontur, der elastisch bald dem Drängen im Innern nachgibt, bald sich wieder zur ausgeprägten Kreisgestalt strafft.
Im weiteren Verlauf beginnt sich der Kontur zu gliedern, meist mit einer Bevorzugung geometrisch-regelmäßiger Umrisse. Dabei ist diese gegliederte Konturierung durchaus labil und kann jederzeit wieder in dem primären Kreiskontur untergehen ......
Dieser Gliederungsprozeß vollzieht sich sprunghaft; mit einem Mal ist eine neue Stufe erreicht. .....
Von Stufe zu Stufe arbeitet sich Gestalt um Gestalt aus einfachen, regelmäßigen, geschlossenen Vorgestalten wie aus Eihüllen heraus.
Ein Beispiel mag diese stufenweise Bereicherung und Individualisierung illustrieren. In der Abb. (s.o.) steht die dargebotene Reizfigur, die in starker Verkleinerung dargeboten wird, an unterster Stelle und darüber sind wiedergegeben einzelne aufeinanderfolgende Zeichnungen eines Beobachters. Der hier nicht angeführte Kreiskontur, die ganze Figur umschließend, gliedert sich in der obersten Figur in ein regelmäßiges Fünfeck. Diese Regelmäßigkeit geht in der folgenden Phase verloren.
Die in der nächsten Zeichnung auftauchende Binnengliederung führt zu einer neuen Verregelmäßigung, in eine Gliederung des Ganzen in ein gleichschenkliges Dreieck und in ein Rechteck.
Das in der nächsten Wiedergabe auftretende neue Glied liegt in der ausgezeichneten Vertikalorientierung und in der Symmetrieachse. Erst gegen Ende des Prozesses lagert es sich reizgemäß. Das Aufbrechen des Konturs führt dann zur Endgestalt hin.
So durchläuft der Gestaltprozeß eine Stufenreihe von Vorgestalten, in denen in schematischer Vereinfachung und Verregelmäßigung die Gliederung der Endgestalt tastend vorausgenommen wird.
Erst in der Endgestalt, mit dem Übergewicht der Reizbedingungen geht die Labilität in eine gewisse Festigkeit und Ruhe über.
Dieses ganze Vorgestalterlebnis, diese heraklitische Welt des Gestaltwerdens, ist wesentlich gefühlsartig. Die Vorgestalten selbst sind in unvergleichlicher Weise in das Ganze eines ausgesprochenen spannungsreichen und gerichteten Gesamterlebnisses eingeschmolzen. Erst in der Endgestalt löst sich das optische Gebilde ab und tritt kalt und fern, gleichsam objektiv, dem Erlebenden gegenüber. Die charakteristische Phase des Vorgestalterlebnisses ..... wirkt manchmal wie ein rauschartiger Schock und hat seine Analoga in schöpferischen Gestaltungsprozessen kultureller Leistungen.
Die Untersuchungen zur Aktualgenese von Gestalten sind in doppelter Hinsicht von Bedeutung; sie zeigen einmal, daß wie in der Phylo- und Ontogenese so auch hier psychische Ganze mit dem Merkmal der Gestaltetheit sich entwickeln aus relativ ungegliederten, in das Gesamterleben eingeschmolzenen Ganzen von gefühlsartigen Qualitäten. Diese gefühlsartigen Qualitäten sind nicht bloße Begleiterscheinungen des Gestaltprozesses, sondern funktional wesentlich als Werdensgrund.
Ohne das zunächst gefühlsartige Erleben ganzheitlicher Zusammenhänge ist auch in höheren Schichten keine produktive Gestaltbildung möglich ....
Auszug aus: Bericht über den 10. Kongress der Dt. Ges. für Psychologie in Bonn 1927, Jena 1928